Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Er forscht in der Philosophie des Geistes, vor allem zu den Grundlagen der Psychologie und Neurowissenschaften. Hübl ist Autor des Buches «Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten» und des Bestsellers «Folge dem weißen Kaninchen ... in die Welt der Philosophie» sowie von Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen, unter anderem in der Zeit, FAZ, NZZ, taz, auf Deutschlandradio und Spiegel online. Hübl studierte in Berlin, Berkeley, New York und Oxford und lehrte an der RWTH Aachen sowie der Humboldt-Universität Berlin. [Foto: Juliane Marie Schreiber]
Der Mythos des Postfaktischen und die Entropie der Lüge
Wir leben nicht in einem postfaktischen Zeitalter, sondern noch immer im Zeitalter der Aufklärung. Das Wort „postfaktisch“ klingt wie ein Fachwort, ist aber keins; so wie „Fake News“ oft nur ein Euphemismus für „freiste Lüge“ darstellt, denn alle Menschen streben nach Wahrheit, genauer: nach wahren Überzeugungen über die Welt. Auch radikale Relativisten springen nicht von Dächern, weil sie es für wahr halten, dass das tödlich enden wird.
Allerdings ordnen Populisten und Teile des Wahlvolkes bestimmte Wahrheit ihrer normativen (moralischen, politischen) Agenda unter nach dem Prinzip „Zuerst die Ideologie, dann die Fakten“. Dabei geht es nicht um beliebige „alternative Fakten“, sondern nur um solche, die die eigenen normativen Vorstellungen stützen. Diese Haltung kann man als „postfaktischen Denkstil“ bezeichnen – als Merkmal einer sozialen Gruppe und nicht einer ganzen Epoche. Dieser Denkstil gründet unter anderem auf Selbsttäuschung und dem Bestätigungsirrtum („confirmation bias“).
Die Produzenten und Verbreiter von „Fake News“ können auf die Entropie der Lüge setzen: Gerade in sozialen Netzen ist der Aufwand, mit Unwahrheiten Schaden anzurichten (für Unordnung zu sorgen), verhältnismäßig gering: Gerüchte und Verschwörungstheorien verbreiten sich dort genauso schnell wie Tatsachenbehauptungen (Karsai et al. 2015; Friggeri et al 2014; Allcott/Gentzkow 2017). Der Aufwand, diesen Schaden zu beseitigen (die Ordnung wiederherzustellen), ist überproportional hoch: Weder erreicht man mit einer Gegendarstellung die Getäuschten, noch stimmt man sie damit um (Hendricks/Vestergaard 2017; Pelle 2013).
Selbst wenn man es schaffte: Die Wiederlegung einer Lüge ist komplexer als die Lüge selbst, und zudem muss man den falschen Sachverhalt wiederholen (Reifler 2010). Gerade Menschen mit einem intuitiven Denkstil tendieren jedoch dazu, das Einfache (wenig Komplexe) und Bekannte (oft Wiederholte) für wahr zu halten (Zajonc 2011; Dechêne et al. 2010). Im zweiten Teil des Vortrags präsentiere ich einige Vorschläge, um auf dieses Problem zu reagieren.