- Studium der Tiermedizin in Hannover und Pretoria (Südafrika)
- PhD in Mikrobiologie, Fachtierärztin für Mikrobiologie, Habilitation in Mikrobiologie
- Seit 2014 W3 Professorin für Mikrobielle Immunologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ich bin 2020 erstmals auf YouTube und in den sozialen Medien auf Debatten rund um den Geschlechtsbegriff gestoßen. Seit einem Lancet-Cover 2021, auf dem der Begriff „bodies with vaginas“ synonym für Mädchen und Frauen verwendet wurde, befasse ich mich intensiver mit der Thematik, den verwendeten Begriffen und Argumenten, aber auch den gesellschaftlichen Auswirkungen der Begriffsverschiebungen
Ist das biologische Geschlecht ein Spektrum?
In der aktuellen Diskussion rund um den Geschlechtsbegriff taucht wiederholt die Annahme auf, dass das biologische Geschlecht ein Spektrum sei. Als Belege dafür werden einerseits Personen mit Abweichungen der Geschlechtsentwicklung angeführt; andererseits wird darauf hingewiesen, dass es „das“ biologische Geschlecht gar nicht gäbe, sondern ein chromosomales, hormonelles und genitales/anatomisches Geschlecht unterschieden werden müsse.
Tatsächlich finden sich in einigen Lehrbüchern zur Physiologie für Humanmediziner die Begriffe chromosomales, hormonelles und genitales/anatomisches Geschlecht, in der Regel ohne weitere Erläuterungen dazu, ob und inwiefern es sich dabei um voneinander unabhängige Merkmalsausprägungen handelt und wie diese mit dem biologischen Geschlechtsbegriff in Verbindung stehen.
Durch diese Auslassungen entsteht der Eindruck, dass das biologische Geschlecht tatsächlich als Summer von voneinander unabhängigen Einzelmerkmalen verstanden werden kann, aus dem sich dann auch logisch die Ableitung ergibt, dass das Geschlecht ein Spektrum mit den Polen männlich und weiblich sei.
Dies entspricht jedoch nicht dem Stand der Wissenschaft. Tatsächlich determiniert die genetische Ausstattung die Geschlechtsentwicklung, die über die Differenzierung der embryonalen Keimdrüsen zu geschlechtsspezifischer Differenzierung und Hormonproduktion führt, die wiederum die Entwicklung der inneren und äußeren Geschlechtsorgane vor und nach der Geburt steuert. Für die diagnostische Abklärung von Abweichungen der Geschlechtsentwicklung, aber auch Unfruchtbarkeit, ist es hilfreich, Chromosomen, Hormone und Organentwicklung zu untersuchen und auf diesen Ebenen Störungen zu klassifizieren. Für das Verständnis, was das biologische Geschlecht ist und welche Bedeutung es hat, ist eine getrennte Betrachtung der Ebenen Chromosomen/Hormone/Anatomie jedoch nicht zweckdienlich.
Neben einer Begriffsklärung und Erläuterungen zum Ablauf der Geschlechtsdifferenzierung und den kausalen und funktionalen Verbindungen von Chromosomen/Hormone/Anatomie werde ich in meinem Beitrag darauf eingehen, warum es insbesondere im medizinischen Kontext problematisch oder sogar gefährlich sein kann, Chromosomen/Hormone/Anatomie als voneinander getrennte Ebenen zu betrachten. Zudem möchte ich aufzeigen, wie das Konzept von biologischem Geschlecht als Spektrum zur Abwertung von Personengruppen benutzt wird.