Soziologe, freier Publizist mit den Themenschwerpunkten: Identitätspolitik, Woke Culture, Meinungsfreiheit
Gibt es Rassismus gegen Weiße? Ein Beitrag zur Definitionslehre in den Sozialwissenschaften
Wissenschaft stellt fest, was der Fall ist. Dann erklärt sie, was der Fall ist. Eine Grundvoraussetzung hierfür sind präzise Begrifflichkeiten. In den Sozialwissenschaften ist dies nicht immer einfach, da wir es häufig mit „essentially contested concecpts“ (W. B. Gallie) zu tun haben, Begriffen also, die interpretationsbedürftig sind, z. B. „Demokratie“, „Kapitalismus“ oder „Gerechtigkeit“. In Teilen der Sozialwissenschaften zeigt sich jedoch auch das Phänomen, dass der Zuschnitt eines bestimmten Begriffs als Mittel im politisch-aktivistischen Kampf eingesetzt wird. Begriffsbildung dient dann nicht primär dazu, die möglichst hohe Erklärungskraft einer Theorie zu gewährleisten, sondern einen politischen Zweck zu erreichen.
Der Vortrag exemplifiziert dies am Beispiel der Debatte um „Rassismus“ im Kontext identitätslinken Wissenschaftsaktivismus. Der Begriff des „Rassismus“ wurde in den letzten Jahrzehnten so zugeschnitten, dass Phänomene in der sozialen Wirklichkeit höchst selektiv unter seinen Anwendungsbereich fallen. So wird in den Critical Whiteness Studies die These vertreten, dass „nur Weiße Rassisten sein können“. Umgekehrt sei „Rassismus gegen Weiße“ nicht möglich. Dies korrespondiert wiederum mit der identitätslinken Generalthese, dass sich die Welt pauschal in „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ einteilen ließe. Schneidet man den Begriff „Rassismus“ in einer bestimmten Weise zu, so kann diese Generalthese an nahezu jedem Phänomen Bestätigung finden. Rassismus ist dann buchstäblich „überall“. Eine solche Begriffsinflationierung schwächt zwar die Erklärungskraft von Theorien und stellt den falsifikatorischen Charakter von Wissenschaft in Frage, stellt aber im politischen Meinungskampf eine scharfe Waffe dar. Die medialen Ausläufer dieser Form des Wissenschaftsmissbrauchs manifestieren sich bis hinein in an sich seriöse Formate der Wissenschaftskommunikation: „Unser gesamtes gesellschaftliches System ist von strukturellem Rassismus durchzogen“, wusste etwa Mai Thi Nguyen-Kim auf „Maithink X“ am 15.09.2024. Dieser Rassismus kann aber identitätslinker Theoriebildung zufolge nur „unterdrückte“ Gruppen treffen – also Menschen nicht-weißer Hautfarbe. Weiße Menschen können keinem Rassismus ausgesetzt sein. Dass man in diesen Wissenschaftsbereichen zu diesem Schluss kommt, hängt stark von den zugrunde gelegten Definitionen ab. Darum wird es in dem Vortrag gehen, und auch um die Frage: Wie plausibel ist das?
In wissenschaftstheoretischer Hinsicht werde ich deshalb fragen: Welche begrifflichen Weichenstellungen führen zu einer selektiven Inflationierung von „Rassismus“? In wissenschaftssoziologischer Absicht: Welches soziale Phänomen verbirgt sich hinter der selektiven Inflationierung von Rassismus? Und wissenschaftspolitisch wird zu bedenken gegeben: Präzise empirische Erkenntnisse über Rassismus sind in einer Gesellschaft, die die rechtliche Gleichbehandlung aller Menschen in ihr normatives Fundament eingegossen hat, wünschenswert. Deswegen scheint es wenig zielführend, wenn Teile der Sozialwissenschaften weiter den Weg in die Pseudo-Wissenschaft beschreiten und durch ihre aktivistische Akzentuierung dazu beitragen, Wissenschaft insgesamt in Misskredit zu ziehen.