Jonas Hessenauer studierte Sozial- und Rechtswissenschaften an der Universität Erfurt sowie Gesellschaftstheorie an den Universitäten Jena und Haifa (Israel). Während seines Studiums arbeitete er u.a. als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Soziologie und am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Jena. Seine Masterarbeit trägt den Titel „Zum Verhältnis von Esoterik und Antisemitismus: Eine Analyse am Beispiel der Anthroposophie“. Seit Juni 2023 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Tikvah Institut in Berlin in einem Forschungsprojekt zur Israelberichterstattung in deutschen Print- und Onlinemedien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen insbesondere in den Bereichen Antisemitismus, Rechtsextremismus, Esoterik und Kritische Theorie.
Charakteristika des anthroposophischen Antisemitismus
Der Vortrag widmet sich dem Verhältnis von Esoterik und Antisemitismus am Beispiel der Anthroposophie. Als empirische Grundlage dienen anthroposophische Schriften aus drei zeitlichen Phasen: von Rudolf Steiner selbst, aus der anthroposophischen Tradition nach ihm mit Schwerpunkt auf der völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus sowie anthroposophische Zeitschriften aus dem Jahr 2021. Dabei wird deutlich, dass zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ideologien in struktureller, funktionaler und inhaltlicher Hinsicht bestehen. Zudem lässt sich die Reproduktion antisemitischer Mythen und Stereotype in anthroposophischen Publikationen in allen untersuchten Zeiträumen nachweisen.
Dies legt die These des Vortrags nahe, dass Antisemitismus bereits in der anthroposophischen Lehre latent angelegt ist. Dies gilt insbesondere für drei Grundelemente der anthroposophischen Lehre: Steiners Evolutionslehre, den Antimaterialismus und den Karmaglauben. Es wird daher argumentiert, dass die Anthroposophie nicht nur Verschwörungsmythen im Allgemeinen nahesteht, wie die einschlägige Forschung (etwa zu „conspirituality“) nahelegt, sondern auch dem Antisemitismus im Besonderen. Anschließend werden die Spezifika des anthroposophischen Antisemitismus herausgearbeitet. Charakteristisch sind seine ausgeprägte Aversion gegen den Materialismus und seine Begründung. Außerdem fügt er dem klassischen modernen Antisemitismus eine weitere spirituelle (Hierarchie-)Ebene jenseits der materiellen Wirklichkeit hinzu. Mit der karmischen Deutung der Shoah existiert zudem ein antisemitisches Motiv, das direkt auf esoterische Grundannahmen zurückgeht.